Wetthungern im Internet
Sie nennen ihre Krankheit "Lifestyle" und stiften sich gegenseitig an, immer mehr abzunehmen: Pro-Ana-Gruppen haben sich in der Online-Welt festgesetzt - soziale Netzwerke von Magersüchtigen, in denen gefährliches Gedankengut und tödlicher Ehrgeiz gedeihen.
Ich darf keine "Dickmacher" essen, ohne hinterher Gegenmaßnahmen zu ergreifen!" heißt es auf dem Bildschirm. Jenny*, 20, kennt die Regel. Sie lebt danach. Aber heute will ihr Körper nicht, wie sie will. "Hab schon wieder einen Döner gegessen! Ich bin so eine fette, verfressene, undisziplinierte Sau! Und Auskotzen ging auch nicht, kam nichts, gar nichts!" Jetzt, mit dem Döner im Magen, kommt die Angst vor dem Wiegen morgen früh. Der Angstmotor heißt "Ana", Abkürzung für Anorexia nervosa: Magersucht. Aber für Jenny ist Ana ein Kosename, der einer guten Freundin.
Allerdings eine, die in Verdacht steht, im Internet eine Anleitung zum Selbstmord zu geben, sagt Ursula von der Leyen. Gemeinsam mit Alice Schwarzer, den Ministerkolleginnen Ulla Schmidt und Annette Schavan sowie anderen engagierten Frauen hat sie die Kampagne "Leben hat Gewicht" gegen Essstörungen ins Leben gerufen. Die Initiative richtet sich auch gegen die Hungerpropaganda der Pro-Ana-Foren im Internet wie "Beautiful Angels", wo Jenny und 41 weitere Mädchen mehrmals täglich schreiben, vom Hungern und Essen, vom Fressen und Brechen. Pro-Ana-Sein heißt: magersüchtig und stolz darauf sein. Die Betroffenen nennen sich "Anas", wie die Krankheit, die für sie ein "Lifestyle" ist. Hinzu kommen die "Mias", Kosename für Bulimiker. Beide wollen ihre Essstörung nicht besiegen, sondern ausleben; manche wollen durch sie sterben. Denn für Pro Anas und Mias ist klar: Nur mit Ana oder Mia können sie dünn sein. Dünn sein ist schön sein, verspricht Erfolg und Glück.
Pro-Ana-Foren gibt es viele im deutschsprachigen Internet. Häufig firmieren sie unter Decknamen, die nur der Szene bekannt sind, auf Seiten von Anbietern, deren Adressen aus Ziffern bestehen, der Inhalt ist versteckt. Denn die Foren verstehen sich als elitäre Klubs: Hier darf nicht jeder rein. Der stern war dennoch drin, in vier Foren, drei Monate lang.
Die Bewerbung ist langwierig Auf den Seiten versperren vor der Aufnahme kleine Vorhängeschlösser den Weg zu den Themen. Besucher sehen nur den Willkommensbereich. Hier bewirbt sich die angehende "Ana". Mehr als 20 Fragen muss sie beantworten: Wunschgewicht? Seit wann bist du essgestört? Oder: Was bedeutet Pro Ana für dich? "Ich kann ohne sie nicht mehr … pro sein hat mich einfach abgelenkt in schweren Zeiten …", antwortet "Libelle" den Beautiful Angels. "Libelle" wollen sie nicht haben. Fazit nach vier Tagen Abstimmung: nicht essgestört genug. "Wirkt nicht wie ne richtige Ana", findet "Ana-Laura".
Die Aufnahmeregeln erhöhen die Faszination", sagt Sylvia Baeck, Gründerin der Beratungsstelle "Dick & Dünn" in Berlin. Hinter dem Einstieg vieler Mädchen in die Szene stecke Neugier, gepaart mit typischen Pubertätskomplexen. "Werden sie aufgenommen, denken sie: Ich gehöre dazu! Für viele ist das Forum etwas Sinngebendes."
"Wenn man dünn ist, heißt das: Kontrolle, Macht. Du bis anders als die anderen. Außergewöhnlich", schreibt "Thinny 8" im Forum "Thin lives", das 34 Anas beherbergt. Hier muss niemand den Fressanfall von gestern und das Kotzen danach verheimlichen. Die Mädchen dürfen offen stolz sein, auf jedes verlorene Gramm, den eigenen dürren Körper, den sie im Forum ausstellen, für den sie beklatscht werden, während Mama mäkelt.
Texte sollen anstacheln Gleich nach der Aufnahme verweist die Moderatorin von Thin lives auf Anas Regeln. "Du bist nie zu dünn!" heißt es in "Anas Gebote". Sowie: "Anorexie wird uns schön machen!" Der Text soll anstacheln, nichts zu essen. Genauso wie die "Gesetze" und andere Texte, die in jedem Pro-Ana- Forum zu finden sind. Mit Sätzen wie "Nur dicke Leute fühlen sich zu Dicken hingezogen! Willst Du von Schweinen gemocht werden, nur weil Du eines bist?"
Damit aus Schweinen Schwäne werden, sollen sich die Userinnen voll aufs Abnehmen konzentrieren. Jede führt ein Tagebuch, in das sie täglich schreibt, wie viel sie wiegt, was sie gegessen hat. Bei "Ana-Laura" gibt es heute eine "Suppe mit 26 kcal", unter ihrem Forumsnamen steht "the skinny bitch always wins", und eine Leiste zeigt ihr Gewicht an: 51,7 Kilo. "Blurred" gibt Brech-Tipps - "wenn du's nicht schaffst, bis zur Galle zu kotzen, bleibt ein Drittel bis die Hälfte drin".
Das ist der ganz normale Wahnsinn in Pro-Ana-Foren - und nur der Anfang. Weiter geht es mit den Thinspirations, zu übersetzen mit Inspirationen zum Dünnsein: Fotos und Videos von dünnen Prominenten und Magersüchtigen. Besonders beliebt sind die Olsen Twins und Kate Moss - Frauen, die dürr sind, kindliche Züge haben. Krasser noch ist die Verehrung für stark Magersüchtige, deren ausgemergelte Körper die Seiten zieren. 32 kg auf 1,65 Meter Körpergröße - für viele Anas erstrebenswert. Alle besuchten Foren veranstalten Abnehmwettbewerbe, zu gewinnen ist unter anderem der Titel "Miss Ana". Dafür sammeln die Mädchen täglich Punkte: Gar nichts bis 100 Kalorien zu sich zu nehmen bringt die Höchstpunktzahl. "Pro Ana hat Sektencharakter", sagt Sylvia Baeck. Wer ein paar Tage nichts im Forum schreibt, fliegt raus; nur wer viele Beiträge verfasst, darf in die spannenden Bereiche, in denen die Mädchen Bikinifotos von sich zeigen.
Verzerrte Wahrnehmung wird verstärkt Pro Ana - "dieser Name wird nicht in Gegenwart von Nicht-Anas erwähnt", steht in den "Gesetzen". Also beginnen die Mädchen, sich mehr und mehr zu isolieren. "Bei Menschen mit Essstörung sind viele gesunde Anteile des Denkens ausgeblendet. Tauschen Sie sich mit Leidgenossen aus, verstärkt das ihre verzerrte Wahrnehmung", warnt Professor Detlev Nutzinger, der in der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik Bad Bramstedt Essgestörte behandelt.
"Wenn Mädchen den ganzen Tag in dieser Welt verbringen, werden sie keine Hilfe von außen annehmen. Die Foren können mit schuld daran sein, dass ein Mädchen an seiner Essstörung stirbt", sagt Beraterin Baeck. Viele der Mädchen waren bereits in Therapie, aber wollten nicht geheilt werden. Kaum zu Hause, hungern sie wieder. Nichts Ungewöhnliches, weiß Nutzinger. Er hörte durch eine Patientin von Pro Ana. Daraufhin entdeckten Mitarbeiter, dass sich Patientinnen über PCs der Klinik in Pro-Ana-Foren einloggten. Vier Jahre ist das her. "Seitdem sind wir alarmiert. Natürlich sind die Inhalte solcher Foren für den Erfolg einer Therapie kontraproduktiv und gefährlich."
Wer steckt hinter Pro Ana? Gibt es jemanden, der einen Nutzen davon hat, diese Mädchen krank zu halten? Auffällig ist, dass in vielen Foren Diät-Medikamente und Drogen empfohlen werden, Links führen zum Teil zu illegalen Shops. "Es scheint, dass finanzielle Interessen hinter den Foren stecken", vermutet Baeck. Auch Nutzinger schließt das nicht aus, hält es aber für wahrscheinlicher, "dass die Bewegung von einem Kreis fanatischer, therapieunwilliger Anorektiker ausgeht".
Schülerportale als Nährboden Und die Bewegung wuchert in die Jugendzimmer: Im Juni 2007 entdeckte Sascha Neurohr, Medienpädagoge bei SchülerVZ, eine Gruppe namens "I am pro ana" auf dem von rund 2,7 Millionen Schülern genutzten Portal. Neurohr löschte die Gruppe sofort. "Wir wollen solchen Gruppen den Nährboden entziehen."
Anders das überaus erfolgreiche US-Sozialnetzwerk Facebook, das derzeit seine Expansion nach Deutschland vorbereitet: "Facebook unterstützt den freien Fluss von Informationen", erklärt Unternehmenssprecherin Laura Burden, man nehme Inhalte nur herunter, wenn sie die Geschäftsbedingungen verletzten. Dementsprechend hielten sich nach stern-Beobachtungen mehrere Ana-Diskussionen hartnäckig.
Pro Ana macht es Gegnern nicht leicht: Decknamen kann ein Filter nicht erfassen. Wird ein Forum gesperrt, sucht es sich einen anderen Anbieter. Ein Problem, das Simone Spacek von Jugendschutz.net gut kennt. Seit 2006 beschäftigt sich die gemeinsame Internet-Überwachungseinrichtung der Bundesländer mit der Bewegung. Der Befund: "Wir halten die klassischen Pro-Ana-Inhalte für offensichtlich schwer jugendgefährdend. Deshalb fordern wir, dass diese Inhalte gesperrt werden oder eine Altersverifikation vorgeschaltet wird." Viele Anbieter kämen dieser Aufforderung nach und sperrten die Foren, berichtet Spacek. Reagiert ein Anbieter nicht, wird er der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) gemeldet. Erst wenn diese einen Verstoß feststellt, kommt es zu einem strafrechtlichen Verfahren.
Mehr als 100 deutsche Foren Ein zeitaufwendiger Prozess: "Es gibt bisher keine gesicherte Spruchpraxis, in welchen Fällen Angebote zum Thema Magersucht nun jugendgefährdend, entwicklungsbeeinträchtigend oder unbedenklich sind", bedauert Spacek. Jugendschutz.net gibt an, dass 73 Prozent der gefundenen jugendgefährdenden Foren vom jeweiligen Anbieter gesperrt wurden. Allerdings entdeckte der stern mehr als 100 aktive deutsche Foren. "Wir können eine Bewegung wie Pro Ana nicht beseitigen, aber eindämmen", sagt Spacek. Und während die KJM noch prüft, ob ein Forum jugendgefährdend ist, schmieden die Mädchen von Beautiful Angels neue Pläne. Ein härteres Forum soll her - mit festen Fastentagen, einem Foto der Füße auf der Waage zur Kontrolle. Ein paar Tage später steht "Rising Ana" im Netz.
Quelle:www.stern.de
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Lache niemanden aus, der gerade drei Schritte rückwärts geht..... Er könnte grade Anlauf nehmen!
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