Erklärungsansätze für die dissoziativen Störungen
1. Psychodynamische Ansicht
2. Behavioristische Ansicht
3. Zustandsabhängiges Lernen (state dependent learning)
4. Selbsthypnose
5. Autosuggestion (HILGARD)
1. Psychodynamischer Erklärungsansatz
Dissoziative Störungen sind das Resultat extremer und dysfunktionaler Verdrängungsprozesse, die der Abwehr von Angst dienen.
Bei der Dissoziativen Identitätsstörung soll es sich um eine lebenslange, übermäßige Verdrängung handeln, die durch extrem traumatische Kindheitserfahrungen (insbesondere Mißhandlungen durch die Eltern) ausgelöst werden. Dabei findet eine symbolische Flucht in "andere Personen" statt, die dem Geschehen aus sicherer Entfernung zusehen können. Dazu kommt die Furcht vor den Impulsen, die angeblich zu ihrer Mißhandlung führen, so daß sie sich bemühen immer "brav" und "anständig" zu sein. Immer wenn die verdrängten Impulse durchzubrechen drohen, werden sie anderen Persönlichkeiten zugeordnet. Dadurch soll es zu einer gehemmten, freudlosen Primärpersönlichkeit kommen, während die anderen Subpersönlichkeiten dreist und triebgesteuert sind.
Der psychodynamische Ansatz bezieht seine Bestätigung aus Fallgeschichten, in denen sich meistens brutale Kindheitserfahrungen finden. Allerdings gibt es auch Fälle, bei denen der Hintergrund nicht eindeutig auffällig zu sein scheint. Außerdem ist die Häufigkeit von Kindesmißhandlung viel größer als die der Dissoziativen Störungen. Es bleibt die Frage offen, warum nur ein kleiner Teil der mißhandelten Kinder dissoziative Symptome entwickeln.
2. Behavioristischer Erklärungsansatz
Bei diesem Ansatz wird die Dissoziation als eine durch operante Konditionierung erworbene Reaktion auf schmerzliche Erlebnisse angesehen, durch die Erleichterung aufgrund der Zuwendung zu anderen Dingen gefunden wurde (negative Verstärkung).
Der behavioristische Ansatz weist Ähnlichkeiten und Unterschiede zum psychodynamischen Erklärungsansatz auf:
Zum einen wird wie beim psychodynamischen Ansatz ein traumatisches Erlebnis als Ausgangspunkt angenommen und das Verhalten als Versuch der Angstreduzierung gesehen. Nach beiden Ansätzen besteht bei den Betroffenen keine Einsicht darin, daß die Reaktion der Angstreduzierung dient. Zum anderen sieht der lerntheoretische Ansatz das erste Auftreten der dissoziativen Symptome eher als zufällig an, während die Psychodynamiker sie bereits für zielgerichtete Versuche halten. Zudem ist der zugrundeliegende Prozeß für die Lerntheoretiker der der negativen Verstärkung und nicht der eines unbewußten Abwehrmechanismus.
Der lerntheoretische Ansatz mußte sich ebenfalls stark auf Fallgeschichten beziehen, die zwar mit den lerntheoretischen Hypothesen übereinstimmen, aber auch mit anderen Erklärungsmöglichkeiten. Die lerntheoretische Erklärung beinhaltet auch keine Aussagen, wie genau der Prozeß der zeitweisen Ablenkung von schmerzlichen Erinnerungen geschehen soll und wie er zu einer erworbenen Reakion wird. Außerdem ist nicht klar, warum nicht mehr Menschen dissoziative Störungen entwickeln, wenn doch temporäres Vergessen im Leben oft verstärkt wird. Die komplizierten Wechselwirkungen der Subpersönlichkeiten kann der Ansatz ebenfalls nicht erklären.
3. Erklärungsansatz durch das Konzept des Zustandsabhängigen Lernens
Beim Konzept des Zustandsabhängigen Lernens (state dependent learning) wird auf die Befunde eingegangen, daß die beste Erinnerung an Lerninhalte in einer Situation stattfindet, die der Lernsituation stark ähnelt.
Ausgangspunkt der Forschung zum Zustandsabhängigen Lernen waren Lernaufgaben von Tieren unter Einfluß von Drogen, wobei die beste Reproduktionsleistung dann gemessen wurde, wenn die Tiere unter Drogen waren (z.B. Pusakulich & Nielson, 1976). Forschungsarbeiten an Menschen zeigten später, daß das zustandsabhängige Lernen sowohl auf psychische als auch auf physiologische Zustände bezogen ist. Bei Menschen fand man z.B., daß die Stimmung auf das Lernen und die Reproduktion einen Einfluß hatte: Wenn unter fröhlicher Stimmung gelernt wurde, wurde unter fröhlicher Stimmung am besten reproduziert (Bower, 1981).
Das Zustandsabhängige Lernen wurde als Erklärung für die Dissoziative Identitätsstörung herangezogen: Unterschiedliche Erregungsniveaus rufen möglicherweise unterschiedliche Gruppen von Erinnerungen, Gedanken und Fertigkeiten hervor - also unterschiedliche Subpersönlichkeiten. Wenn die Erregungsniveaus sich stark ändern, können die während eines ähnlichen Zustands erworbenen Fähigkeiten hervortreten, während die unter einem anderen Zustand erworbenen verschwinden. Die abrupten Wechsel zwischen den Subpersönlichkeiten sprechen für diesen Ansatz.
4. Erklärungsanstz durch das Konzept der Selbsthypnose
Hypnose ist ein schlafähnlicher Zustad mit hohem Grad an Suggestibilität und verändertem Wahrnehmen, Denken und Handeln. Unter Hypnose ist es bei manchen Personen manchmal möglich, daß sie sich an scheinbar vergessene Ereignisse erinnern. Andererseits kann die Hypnose auch zum Vergessen von Tatsachen, Ereignissen und der persönlichen Identität führen, etwas, was als hypnotische Amnesie bezeichnet wird.
Das Untersuchungsparadigma zur hypnotischen Amnesie besteht aus dem Lernen einer Wortliste und der hypnotischen Instruktion zum Vergessen des Gelernten bis zum Aufhebungssignal (z.B. Fingerschnalzen). Die Experimente nach diesem Schema zeigen eine starke Beeinträchtigung der Reproduktionsleistung bis zum Aufhebungssignal. Außerdem ist das episode Gedächtnis stärker hypnotisch beeinflußbar als das semantische.
Die Parallele zu den dissoziativen Störungen ist leicht erkennbar: Es findet sich bei beiden ein vorübergehendes Vergessen mit späterer Erinnerung, ein Vergessen, das den Personen nicht bewußt ist, und ein leichteres Vergessen episodischer als semantischer Inhalte. Aufgrund dieser Parallelen wurde vermutet, daß Dissoziative Störungen durch Selbsthypnose zustande kommen: Die Betroffenen bringen sich unter Selbsthypnose dazu, negative Erinnerungen zu vergessen. Bei der dissoziativen Fugue soll sich das Vergessen durch Selbsthypnose auf die gesamte Vergangenheit und die Identität beziehen.
Manche Formen der Dissoziativen Identitätsstörung lassen sich ebenfalls mit Selbsthypnose erklären: Nach einem Bericht von Bliss (1980) von 14 Frauen, die unter Dissoziativer Identitätsstörung litten, waren alle Frauen leicht empfänglich für Hypnose und hatten eine lange Vorgeschichte möglicher Selbsthypnosen, die bis ins 5. bis 7. Lebensjahr zurückreichte. Dieser Bericht wurde durch weitere Studien bestätigt. Aufgrund dieser Untersuchungen gehen viele Theoretiker heute davon aus, daß die Störung in der Regel mit 4 bis 6 Jahren beginnt, da die Kinder in diesem Lebensalter sehr suggestibel sind und gute Hypnoseprobanden abgeben. Danach gelingt es manchen traumatisierten oder mißbrauchten Kindern, ihrer bedrohlichen Welt durch Selbsthypnose zu entfliehen, sich psychisch von ihrem Körper und dessen Umgebung zu trennen und sich ihren Wunsch, eine oder mehrere andere Personen zu sein, zu erfüllen.
Es gibt 2 Lehrmeinungen zur Hypnose, die jeweils unterschiedliche Implikationen für die dissoziativen Störungen haben.
Annahme I besagt, daß die Hypnose ein besonderer Prozeß oder Trance mit veränderter psychischer und physiologischer Reaktionslage ist. Es wird behauptet, daß
1. Menschen mit dissoziativen Störungen sich selbst in innere Trance versetzen, während der sich ihr bewußtes Erleben und Verhalten signifikant ändert,
2. ihr Vergessen während der Selbsthypnose automatisch und vollständig ist,
3. ihre Bereitschaft zur Entwicklung neuer Identitäten (Fugue) oder verschiedener Persönlichkeiten (dissoziative Identitätsstörung) durch die erhöhte Fähigkeit zu unlogischem Denken, wie sie unter Hypnose auftritt, gefördert wird.
Einige Forscher behaupten auch, daß Menschen mit hoher, stabiler Suggestibilität Vorzugskandidaten für dissoziative Störungen sind.
Annahme II besagt, daß die Hypnose mit gewöhnlichen sozialpsychologischen Prozessen wie hoher Motivation, Aufmerksamkeit und Erwartung erklärt werden kann. Die Personen bemühen sich aktiv, die Anweisungen des Hypnotiseurs wörtlich auszuführen. Aufgrunf ihres Glaubens an die Hypnose erkennen sie ihren eigenen Beitrag nicht und geben statt dessen an, daß sie sich automatisch und ohne zielgerichtete Anstrengung verhielten. Danach sollen dissoziative Störungen darauf zurückgehen, daß sich die Betroffenen sehr wirkungsvoll selbst suggerieren, daß sie vergessen, phantasieren und diese Suggestionen ausführen müßten.
Unter Annahme II wird z.B. vermutet, daß sich leicht hypnotisierbare Menschen in entscheidenden Augenblicken eines Tests selbst ablenken und später ihre Aufmerksamkeit wieder bündeln können. Dies wurde in mehreren Studien überprüft: Bei diesen lernten Probanden einer Gruppe Wortlisten, wurden dann hypnotisiert und angewiesen, die Liste zu vergessen. Eine zweite Gruppe von Probanden lernte ebenfalls die Wortliste, wurde dann aufgefordert, die Wörter wiederzugeben, während sie eine ablenkende Aufgabe ausführte (in Dreierschritten rückwärts zählen). Das Ergebnis war, daß die nichthypnotisierten Probanden dieselben Gedächtnisprobleme im gleichen Ausmaß wie die hypnotisierten hatte. Andere Studien ergaben, daß sich bei unterschiedlichen Experimenten mit Schmerzreduktion, Halluzinationen und Zeitverzerrung nichthypnotisierte, aufgabenmotivierte Probanden ebenfalls dazu bringen ließen, sich wie hypnotisierte Probanden zu verhalten.
5. Autosuggestion (HILGARD)
Neodissoziationstheorie nach HILGARD (1974)
Annahme, daß durch eine starke Identifizierung mit einer anderer Person eine stark verankerte Gedächtnisspur entsteht. Suggestive Prozesse und Wünsche führen zur Annahme dieser Person als eine Subpersönlichkeit. Die parallele Verarbeitungsform des Gehirns könnte voneinander unabhängige Bewußtseinsströme möglich machen.
_________________ Ganz liebe Grüße Biene
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