Asperger-Syndrom
© DIE ZEIT 26.08.2004 Nr.36
Wenn das Denken einsam macht
Das Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus, ist bei Kindern schwer zu erkennen. Dabei könnte eine frühe Therapie die Patienten aus der Isolation befreien Von Jörgen Lang
Von Geschichten hört Max* am liebsten den Anfang. »Noch mal von vorn«, ruft er, auch wenn die Handlung noch gar nicht zu Ende ist. Der Weg ist das Ziel: Mit starrem Blick reißt Max seine kunstvoll aufgeschichteten Bauklötze ein, ordnet sie von Neuem und zerstört sie wieder. Aber wehe, wenn seine kleine Schwester Anna* die scheinbare Unordnung durcheinander bringt. Dann kreischt er in schrillen Tönen, und sein Gesicht verzerrt sich. Noch schlimmer ist es, wenn die Eltern seinen Rhythmus stören: wenn sie morgens die Haustür aufschließen, obwohl das seine Aufgabe ist; wenn sie ihm den Pullover überziehen, obwohl erst die Hose dran wäre; wenn sie ihm Margarine aufs Brot schmieren, obwohl er »Marmelade ohne« haben wollte. Dann weint Max, zittert am ganzen Körper, lässt sich kaum trösten.
Lange Zeit dachten die Eltern, ihr Sohn sei »hypersensibel«. Doch dann äußerte der Kinderarzt einen Verdacht, den jetzt ein Spezialist bestätigte: »Er lebt ein bisschen in seiner eigenen Welt.« Max leidet am Asperger-Syndrom, einer besonderen Form des Autismus (siehe Kasten). Typisch für die betroffenen Menschen ist, dass sie nahezu unfähig sind, Freundschaften zu schließen; Gestik und Mimik sind eingeschränkt, ihre Bewegungen ungelenk; sie reagieren mit Wutanfällen auf kleinste Veränderungen in der täglichen Routine. So wie Legastheniker wegen ihrer Leseschwäche mit dem Alphabet kämpfen, sind Menschen mit dem Asperger-Syndrom nicht in der Lage, soziale Zeichen für Ablehnung oder Sympathie zu verstehen.
Der englische Psychologe Tony Attwood nennt das »Gedankenblindheit« und erklärt, warum die Betroffenen lieber Sachbücher als Romane lesen: Sachbücher setzen weitaus weniger »Verständnis für Menschen und ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen« voraus. Dabei fallen Asperger schon im Kindesalter mit ungemein korrekter, fast pedantischer Sprache und mit einem außergewöhnlichen Wortschatz auf, den sie aber nicht zum Dialog und zur Kommunikation nutzen. Hinzu kommen bisweilen motorische Unruhe und Probleme mit der Reizverarbeitung: Sie sind überempfindlich bei Berührungen. Geruchssinn und Hörvermögen sind so gesteigert, dass es zu Panikanfällen kommen kann.
»Du gehst nicht mehr an meine Sachen«, weist Max seine zweijährige Schwester an, »das musst du akzeptieren.« Solche Kommentare hat er auch für seine Eltern parat: »Du bist mir ein schlechtes Vorbild!« Dabei vollzieht Max für sich stets dieselben Rituale, spielt dieselben stereotypen Spiele: »Landschaften« bauen, Autos und Züge steuern oder »parken«. »Ich kann euch etwas über Bahnhofshallen erzählen«, ruft er aufgeregt hüpfend, als er Kindern von Bekannten sein neues Eisenbahnbuch zeigt. Doch seine Begeisterung stößt auf wenig Gegenliebe. Minuten später hockt der Vierjährige wieder allein neben dem Sandkasten. Bei großer Aufregung wedelt er mit den Händen. Dazu macht er unentwegt Geräusche. Doch zwischen irrwitzigen Wortschöpfungen verbirgt sich manchmal überraschend eine ungewöhnliche Erkenntnis: »Mama, manchmal ist das Leben so schwierig für mich.«
Es ist unklar, wo »normales« Verhalten aufhört und Autismus beginnt. »Rainman«, im Film verkörpert durch Dustin Hoffman, erscheint als Querschnitt all dessen, was sich die Öffentlichkeit unter einem Autisten vorstellt: ein tapsig-rührender Mensch zwischen Abkapselung und Hochbegabung. Doch was ist mit den »anderen« Autisten, die nicht ins Auge fallen? Helmut Remschmidt ist Direktor der Marburger Universitäts-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters. Auf dem Weltkongress für Kinder- und Jugendpsychiatrie (IACAPAP), der in dieser Woche unter seiner Leitung in Berlin stattgefunden hat, hat er diese Spielart des Autismus zum Gegenstand eines Symposiums gemacht. In der Wissenschaft sorge das Syndrom derzeit für viel Gesprächsstoff, sagt der Mediziner und bestätigt aus eigener Anschauung, dass es sich dabei keineswegs um eine neue Modeerkrankung handelt. »Einer meiner ersten Patienten war ein Asperger«, erinnert er sich. »Das war 1968.« Schon damals sei dieses Phänomen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bekannt gewesen, nur nicht unter dem heutigen Namen. Benannt wurde es nach dem österreichischen Kinderarzt Hans Asperger, der 1944 für diese leichtere Ausprägung des Autismus mit durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz den Begriff »autistische Psychopathie« prägte. Patienten, die später nach Asperger benannt wurden, sind vergleichsweise unauffällig: Sie können sprechen und gelten nicht als zurückgeblieben. Vor sechs Jahren sei das Syndrom in Deutschland offiziell »zum Thema« geworden, heißt es beim Bundesverband »Hilfe für das autistische Kind«.
Zu spät für Ben Weber*. Der 42-Jährige wurde erst 1998 als Asperger diagnostiziert. Hinter ihm und seiner heute 76-jährigen Mutter liegt ein langer Leidensweg. Als Sonderling fiel Ben zuerst im Kindergarten auf. Er galt als Perfektionist, der immer zu lange brauchte. Bei einem Begabungstest, den er als 7-Jähriger absolvierte, zeigte sich – rückblickend betrachtet – ein für Asperger typisches Bild: überdurchschnittliche Intelligenz und das auffallend starke Gefälle zwischen über- und unterdurchschnittlich ausgeprägten Fähigkeiten. Als Kind identifizierte er Moose im Wald. In der Hauptschule beeindruckte er mit seinem prähistorischen Wissen. »Das war über fossile Hominiden«, erzählt Ben und hält dabei leidlich Blickkontakt. Häufig scheinen seine Augen abzuschweifen. Obwohl seine Mutter betont, dass die Familie mit ihm trainiert habe: »Du musst die Leute ansehen, wenn du mit ihnen sprichst!«
In der Öffentlichkeit gelten Asperger-Patienten oft als seltsame Käuze
Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass das Asperger-Syndrom auf genetischen Faktoren beruht – nicht auf Traumata, wie man lange Zeit annahm. Trotzdem ist noch vieles unklar. In Betracht gezogen werden auch Hirnschädigungen vor oder während der Geburt: Eine Entwicklungsstörung neuronaler Netze behindert möglicherweise die Verarbeitung komplexer Informationen. Als Ursachen gelten auch neuropsychologische Defekte. Sie betreffen neben Defiziten in Motorik und visueller Raumwahrnehmung etwa die Fähigkeit, anderen bestimmte Gefühle zuzuschreiben, Einzelheiten als zusammengehörig aufzufassen, gespeicherte Fakten abzurufen. Das Dilemma der Asperger: Sie können ihr bisweilen lexikalisches Wissen kaum nutzen oder einordnen, da bei ihnen die Wissensspeicherung überwiegt.
Charakteristisch ist die spleenhaft wirkende Fixierung auf absonderliche Fachgebiete. In der Literatur liest man von Aspergern, die leidenschaftlich gern Elektromotoren auseinander nehmen, sich für Uhren begeistern, Süßigkeiten sammeln, ohne sie zu essen, Telefonbücher oder lateinische Namen von Medikamenten studieren. Uferlos könne dieses Interessenspektrum sein, sagt Helmut Remschmidt. Er kann sich an einen Patienten erinnern, »der Kirchtürme sammeln und klassifizieren wollte« – mit Zeichnungen und Fotografien. Gleichwohl warnt der Wissenschaftler vor Klischees: »Nicht alle Asperger sind hyperintelligent.« Intellektuell stark eingeschränkte Patienten gäbe es allerdings kaum. Für Ursula Franke sagt das nichts aus über die Alltagstauglichkeit. Was nutze ein IQ von 136, wenn jemand ständig zu spät zur Schule komme? Die stellvertretende Leiterin des Kölner Autismustherapie-Zentrums (ATZ) beschäftigt sich seit Jahren mit den Folgen des Asperger-Syndroms. Das ATZ ist eines von 39 Therapiezentren dieser Art in Deutschland. 14 Mitarbeiter betreuen hier derzeit rund 100 autistische Patienten. Knapp 40 davon haben die Diagnose Asperger. Das Geschlechterverhältnis männlich/weiblich liegt bei etwa vier zu eins. Beim Asperger-Syndrom sind männliche Patienten in der Regel noch häufiger als beim frühkindlichen Autismus: Hier kommen gleich acht von ihnen auf eine Frau.
Einer der »Klienten«, wie sie im ATZ heißen, ist 16 Jahre alt. Seine Therapie gilt vorläufig als abgeschlossen. Franke hat unter anderem dabei geholfen, ihn aufs Abitur vorzubereiten. »Dabei wird die Strukturierung des Tagesablaufs groß geschrieben«, erklärt die Therapeutin. Strukturieren bedeutet Regeln lernen: Wie schaffe ich es, pünktlich aufzustehen? Wie erledige ich meine Hausaufgaben? Wie oft muss ich meine Wäsche wechseln? Ein Schlüsselproblem vieler Asperger ist der Umgang mit der Zeit. An Pünktlichkeit können sie sich oft nur schwer gewöhnen. Die Argumentationskette, mit der die Diplompädagogin arbeitet, geht so: »Ich lebe in einer Gemeinschaft, nicht auf einer Insel. Man muss nach Regeln leben, damit man klarkommt. Wenn man Abitur machen will und nie pünktlich kommt, hat man Schwierigkeiten.« Die Geheimwaffe der Therapeutin: schriftliche Verträge abschließen.
Disziplin ist nur ein Teil der Therapie. Es gibt Videoaufnahmen und Rollenspiele, mit denen die Patienten den Blickkontakt üben oder lernen können, wie man Gefühle von Gesichtern abliest. Auch das wird trainiert: Wie nimmt man mit anderen Kontakt auf? Wie verhält man sich im Treppenhaus oder an Eingängen? Dass hoch intelligente Menschen an simplen Anforderungen scheitern können, ist nach Frankes Erfahrung ein Problem, auf das Eltern und Lehrer fassungslos reagieren. Schon deshalb legt sie viel Wert auf die »Beratung des Umfeldes«. 50 bis 70 Prozent ihrer Arbeit widmet Franke der Familie ihrer Klienten, dem Kindergarten, der Schule. Betroffene und Kontaktpersonen müssen lernen, mit dem Syndrom umzugehen.
Seine vielfältigen Erscheinungsformen machen es schwierig, seine Verbreitung hochzurechnen. Es wird häufiger diagnostiziert als noch vor wenigen Jahren. Und wohl auch früher: Im ATZ stehen immer öfter Vier- und Fünfjährige auf der Warteliste. Remschmidt vertritt den Standpunkt, dass ein erfahrener Psychiater Asperger schon bei Dreijährigen diagnostizieren kann. Doch mit Schätzungen zum Vorkommen hält er sich zurück – und verweist auf die spärlichen Forschungsergebnisse der Kollegen. Eine Hochrechnung aufgrund von klinischen Stichproben hat ergeben, dass zwei Prozent der Bevölkerung an Asperger leiden sollen. Remschmidt sieht die Entwicklung der Diagnostik nüchtern: »Ich glaube nicht, dass es heute mehr Fälle gibt als früher.« Das Syndrom sei einfach bekannter geworden, die Aufmerksamkeit größer, die Auswertung besser. Wird es tatsächlich vererbt, könnte dies auf eine vergleichsweise hohe Dunkelziffer deuten – bezogen auf all jene Einzelgänger und Sonderlinge, die unerkannt autistische Merkmale in sich tragen. »Es gibt die, die sich durchwurschteln«, sagt Ursula Franke. »Das sind dann die seltsamen Käuze.«
Bei all den unterschiedlich gelagerten Fällen erscheint auch eine Prognose des Syndromverlaufs schwierig, zumal es bei Aspergern kaum Langzeituntersuchungen gibt. Für Helmut Remschmidt ist klar: Je massiver die Kontaktstörung, umso schlechter die Prognose. Bei schweren Ausprägungen erscheint betreutes Wohnen und Arbeiten bisweilen als der einzige Ausweg. Ursula Franke kennt aber auch positive Beispiele: Dolmetscher, Reiseverkehrskaufmann, Beschäftigte im IT-Bereich. Ein 35-jähriger Klient hat erfolgreich Jura studiert und ist Beamter geworden. »Ohne Publikumsverkehr«, erzählt Franke, »der muss sich mit Akten herumschlagen.«
Sein Mangel an Schnelligkeit, Intuition und Reizverarbeitung hat Ben zum Außenseiter gemacht. Ben selbst hat nie so recht durchschaut, warum ihn seine Mitschüler hänselten. Asperger, so heißt es, nähmen ihre eigene Persönlichkeit als »gesund« wahr. Auch sein berufliches Scheitern schien programmiert, obwohl er, dreisprachig aufgewachsen, das Abitur nachholte. Seine Laufbahn als Präparator am Geologisch-Paläontologischen Institut endete, als dort Stellen gestrichen wurden. Das Studium der Biotechnologie brach er aus ethischen Gründen ab. Die Umschulung zum Kommunikationselektroniker war vergeblich, weil er beim Vorstellungsgespräch durchfiel. »Ich wurde gefragt, ob ich irgendwelche Mannschaftssportarten mitmachen würde«, erzählt er. »Ich habe gesagt, dass ich keinen derartigen Sport treibe.«
»Er würde nicht lügen«, sagt seine Mutter. Wer ungeschriebene soziale Regeln nicht versteht, Metaphern und Ironie wörtlich nimmt, hat eben keine Chance. Wenn sie Ben androht, sie müsse ein Hühnchen mit ihm rupfen, entgegnet er nur erstaunt: »Kein Hühnchen in Sicht!«
Ben lebt heute in einer eigenen Wohnung – allein, wie viele Asperger. Helmut Remschmidt stellt fest: »Einen Partner zu finden ist für sie ein großes Problem.« Ben sagt: »Es ist schwer für mich abzuschätzen: Wie viel von mir kann der andere vertragen?« Er hat einen gesetzlichen Betreuer in amtlichen und geschäftlichen Dingen. Arbeit hat er im Ladengeschäft einer Behindertenwerkstatt gefunden. »Früher wurden solche Leute Professor«, hadert seine Mutter.
_________________ Ganz liebe Grüße Biene
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