Symptome
Die Multiple Persönlichkeitsstörung (MPS) wird heute auch als Dissoziative Identitätsstörung (DIS) bezeichnet. Im folgenden wird daher dieser Name verwendet.
Personen, die diese psychische Störung aufweisen, besitzen zwei oder mehr Subpersönlichkeiten mit eigenen Erinnerungen, Verhaltensweisen, Gedanken und Gefühlen. Die Subpersönlichkeiten haben üblicherweise ihren eigenen Namen, was der "Tatsache" gerecht wird, daß sich die Subpersönlichkeiten in verschiedenen Merkmalen voneinander unterscheiden, die sich in 4 Bereiche unterteilen lassen:
Persönlichkeitsmerkmale (brav, tugendhaft, religiös, witzig, frech)
Sozialdaten (Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Familiengeschichte)
Fähigkeiten und Vorlieben (Autofahren, Instrumente, Fremdsprachen, Handschriften)
Physiologische Aktivität (Aktivität des vegetativen Nervensystems, Blutdruck, Menstruationszyklus, Hirnströme gemessen durch EEG)
Zu einer Zeit kann immer nur eine Subpersönlichkeit das Verhalten der Person bestimmen und mit der Umwelt in Kontakt treten. Gewöhnlich zeigt sich eine der Subpersönlichkeiten, die primäre oder Gastgeberpersönlichkeit, häufiger als die anderen. Die primäre Identität, die den Namen der Person trägt, ist oft passiv, abhängig, schuldig oder depressiv. Andere Identitäten sind oft gegensätzlich (z.B.feindselig). Sie werden so erlebt, als ob sie auf Kosten der anderen die Kontrolle übernehmen (die Identitäten haben Beziehungen untereinander, gelegentlich teilt eine mächtige Identität die aktive Zeit ein). Der Übergang der Kontrolle von einer Subpersönlichkeit zu anderen erfolgt gewöhnlich plötzlich und ist oft dramatisch (meist nach belastendem Ereignis oder künstlich induziert, z.B. durch Hypnose). Für die Zeit der Kontrollübernahme durch andere Subpersönlichkeiten erlebt die primäre Identität meistens einen Gedächtnisverlust, der gewöhnlich das Symptom ist, aufgrund dessen sich die Person in Therapie begibt.
Die Anzahl der Subpersönlichkeiten kann von 2 bis mehr als 100 reichen. Die Hälfte der berichteten Fälle beziehen sich auf Personen mit 10 oder weniger Identitäten. Die Subpersönlichkeiten können auch jeweils in Zweier- oder Dreiergruppen auftreten.
Die Subpersönlichkeiten können drei Arten von Beziehungen untereinander haben:
wechselseitige Amnesie: Die Subpersönlichkeiten wissen nichts voneinander.
wechselseitiges Wissen: Die Subpersönlichkeiten wissen voneinander, sie hören sich gegenseitig und sprechen miteinander.
einseitige amnestische Beziehung: Am häufigsten kommt es vor, daß einige Subpersönlichkeiten (ko-bewußte Subpersönlichkeiten) von der Existenz der anderen wissen, als “stille Beobachter” die Handlungen und Gedanken der anderen beobachten, aber nicht mit diesen interagieren. Sie können sich manchmal, während eine andere Subpersönlichkeit dominiert, durch indirekte Mittel bemerkbar machen, z.B. durch akustische Halluzinationen (Stimme spricht) oder "automatisches Schreiben".
Häufigkeit der Störung
Die Störung wird meistens zum ersten Mal in der Adoleszenz oder dem frühen Erwachsenenalter diagnostiziert. Allerdings wird angenommen, daß sich die Symptome bereits in der frühen Kindheit nach Mißbrauchserlebnissen entwickeln (üblicherweise vor einem Alter von 5 Jahren). Studien zufolge wurden 97% der Betroffenen in ihren ersten Lebensjahren körperlich, oft sexuell mißhandelt. Bei Frauen wird die Störung drei- bis neunmal so häufig diagnostiziert wie bei Männern. Die durchschnittliche Anzahl der Subpersönlichkeiten beträgt bei Frauen 15, bei Männern 8.
Die Störung ist selten, doch wird sie in neuerer Zeit v.a. in den USA häufiger als früher diagnostiziert (bis 1970: 100 Fälle publiziert; bis Mitte der 70er Jahre: 200 Fälle; Anfang der 80er Jahre: 400 Fälle). Man nimmt als Grund der häufigeren Diagnose an, daß die Störung für authentischer gehalten wird, während sie früher vielleicht häufiger als Schizophrenie diagnostiziert wurde.
Vermutete Ursachen
Zur Erklärung der Dissoziativen Identitätsstörung gibt es eine Reihe von Vermutungen, die alle relativ spekulativ sind. Einige von ihnen werden näher erläutert:
Tiefenpsychologische Ansicht
Nach diesem Ansatz sollen dissoziative Störungen das Resultat extremer und dysfunktionaler Verdrängungsprozesse sein, die der Abwehr von Angst dienen. Bei der Dissoziativen Identitätsstörung soll es sich um eine lebenslange, übermäßige Verdrängung handeln, die durch extrem traumatische Kindheitserfahrungen (insbesondere Mißhandlungen durch die Eltern) ausgelöst werden. Dabei findet eine symbolische Flucht in "andere Personen" statt, die dem Geschehen aus sicherer Entfernung zusehen können. Dazu kommt die Furcht vor den Impulsen, die angeblich zu ihrer Mißhandlung führen, so daß sie sich bemühen immer "brav" und "anständig" zu sein. Immer wenn die verdrängten Impulse durchzubrechen drohen, werden sie anderen Persönlichkeiten zugeordnet. Dadurch soll es zu einer gehemmten, freudlosen Primärpersönlichkeit kommen, während die anderen Subpersönlichkeiten dreist und triebgesteuert sind.
Der psychodynamische Ansatz bezieht seine Bestätigung aus Fallgeschichten, in denen sich meistens brutale Kindheitserfahrungen finden. Allerdings gibt es auch Fälle, bei denen der Hintergrund nicht eindeutig auffällig zu sein scheint. Außerdem ist die Häufigkeit von Kindesmißhandlung viel größer als die der Dissoziativen Störungen. Es bleibt die Frage offen, warum nur ein kleiner Teil der mißhandelten Kinder dissoziative Symptome entwickeln.
Verhaltenstherapeutische Ansicht
Der lerntheoretische Ansatz weist Ähnlichkeiten und Unterschiede zum psychodynamischen Erklärungsansatz auf: Zum einen wird wie beim psychodynamischen Ansatz ein traumatisches Erlebnis als Ausgangspunkt angenommen und das Verhalten als Versuch der Angstreduzierung gesehen. Nach beiden Ansätzen besteht bei den Betroffenen keine Einsicht darin, daß die Reaktion der Angstreduzierung dient. Zum anderen sieht der lerntheoretische Ansatz das erste Auftreten der dissoziativen Symptome eher als zufällig an, während die Psychodynamiker sie bereits für zielgerichtete Versuche halten. Zudem ist der zugrundeliegende Prozeß für die Lerntheoretiker der der negativen Verstärkung und nicht der eines unbewußten Abwehrmechanismus.
Der lerntheoretische Ansatz mußte sich ebenfalls stark auf Fallgeschichten beziehen, die zwar mit den lerntheoretischen Hypothesen übereinstimmen, aber auch mit anderen Erklärungsmöglichkeiten. Die lerntheoretische Erklärung beinhaltet auch keine Aussagen, wie genau der Prozeß der zeitweisen Ablenkung von schmerzlichen Erinnerungen geschehen soll und wie er zu einer erworbenen Reaktion wird. Außerdem ist nicht klar, warum nicht mehr Menschen dissoziative Störungen entwickeln, wenn doch temporäres Vergessen im Leben oft verstärkt wird. Die komplizierten Wechselwirkungen der Subpersönlichkeiten kann der Ansatz ebenfalls nicht erklären.
Erklärungsansatz auf Basis des zustandsabhängigen Lernens
Beim Erklärungsversuch durch das zustandsabhängige Lernen wird auf Untersuchungsbefunde zurückgegriffen, die besagen, daß die beste Erinnerung an Lerninhalte in einer Situation stattfindet, die der Lernsituation stark ähnelt. Ausgangspunkt der Forschung zum zustandsabhängigen Lernen waren Lernaufgaben von Tieren unter Einfluß von Drogen, wobei die beste Erinnerungsleistung dann gemessen wurde, wenn die Tiere unter Drogen standen (z.B. Pusakulich & Nielson, 1976). Forschungsarbeiten an Menschen zeigten später, daß das zustandsabhängige Lernen sowohl auf psychische als auch auf physiologische Zustände bezogen ist. Bei Menschen fand man z.B., daß die Stimmung auf das Lernen und die Erinnerung einen Einfluß hatte: Wenn unter fröhlicher Stimmung gelernt wurde, wurde unter fröhlicher Stimmung am besten erinnert (Bower, 1981).
Bei der Übertragung dieser Befunde zur Erklärung der Dissoziativen Identitätsstörung wird davon ausgegangen, daß unterschiedliche Erregungsniveaus im Gehirn möglicherweise unterschiedliche Gruppen von Erinnerungen, Gedanken und Fertigkeiten hervorrufen - also unterschiedliche “Subpersönlichkeiten”. Wenn die Erregungsniveaus sich stark ändern, können die während eines ähnlichen Zustands erworbenen Fähigkeiten hervortreten, während die unter einem anderen Zustand erworbenen verschwinden. Die abrupten Wechsel zwischen den Subpersönlichkeiten sprechen für diesen Ansatz.
Erklärungsansatz auf Basis der Selbsthypnose
Hypnose ist ein schlafähnlicher Zustand mit hohem Grad an Suggestibilität und verändertem Wahrnehmen, Denken und Handeln. Unter Hypnose ist es bei manchen Personen manchmal möglich, daß sie sich an scheinbar vergessene Ereignisse erinnern. Andererseits kann die Hypnose auch zum Vergessen von Tatsachen, Ereignissen und der persönlichen Identität führen, etwas, was als hypnotische Amnesie bezeichnet wird.
Die typische Untersuchungssituation zur hypnotischen Amnesie besteht aus dem Lernen einer Wortliste und der hypnotischen Instruktion zum Vergessen des Gelernten bis zum Aufhebungssignal (z.B. Fingerschnalzen). Die Experimente nach diesem Schema zeigen eine starke Beeinträchtigung der Reproduktionsleistung bis zum Aufhebungssignal. Außerdem ist das episodische Gedächtnis, das die Erinnerungen an die eigenen Lebenserfahrungen enthält, stärker hypnotisch beeinflußbar als das semantische Gedächtnis, das Erinnerungen an das Weltwissen wie z.B. geschichtliche Daten, den Namen des Bundeskanzlers, das Wissen über das Funktionsprinzip eines Autos enthält.
Die Anwendung der Kenntnisse über Hypnose auf die Dissoziative Identitätsstörung stützt sich auf das bei beiden Phänomenen vorkommende Vergessen mit späterer Erinnerung, ein Vergessen, das den Personen nicht bewußt ist, und ein leichteres Vergessen episodischer als semantischer Inhalte. Es wird angenommen, daß sich die Betroffenen sich unter Selbsthypnose dazu bringen, negative Erinnerungen zu vergessen. Nach einem Bericht von Bliss (1980) über 14 Frauen, die unter Dissoziativer Identitätsstörung litten, waren alle Frauen leicht empfänglich für Hypnose und hatten eine lange Vorgeschichte möglicher Selbsthypnosen, die bis ins 5. bis 7. Lebensjahr zurückreichte. Dieser Bericht wurde durch weitere Studien bestätigt. Aufgrund dieser Untersuchungen gehen viele Theoretiker heute davon aus, daß die Störung in der Regel mit 4 bis 6 Jahren beginnt, da die Kinder in diesem Lebensalter sehr suggestibel sind und gute Hypnoseprobanden abgeben. Danach gelingt es manchen traumatisierten oder mißbrauchten Kindern, ihrer bedrohlichen Welt durch Selbsthypnose zu entfliehen, sich psychisch von ihrem Körper und dessen Umgebung zu trennen und sich ihren Wunsch, eine oder mehrere andere Personen zu sein, zu erfüllen.
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Lache niemanden aus, der gerade drei Schritte rückwärts geht..... Er könnte grade Anlauf nehmen!
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